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Was man fuehlen soll


Diese Zeile ist ein Schreibtest von Rüdiger

Was man fühlen soll
I.                   Die Hütte
Die Tür ist halb zu, halb offen. Einen Augenblick verweilt Theo auf der Schwelle, dann betritt er das Zimmer. Die Anzeichen des Aufbruchs sind noch zu sehen: zerwühlte Bettwäsche, Turnschuhe und Rucksack fehlen. Ilja hat ihm eine kurze Nachricht hinterlassen: Komme später mit Frühstück zurück. Ein kleines Herz. 

Theo streicht das Bettzeug glatt und öffnet das Fenster, bevor er sich auf den Weg nach unten macht. In der Küche steht die French Press auf dem Abtropfbrett, daneben ein Becher, leer bis auf einen dünnen Bodensatz. Theo schwenkt die Kanne unter Wasser ab und setzt frischen Kaffee auf. 
Seit sechs Monaten leben sie nun an der Küste. Nachdem Theo die Anzeige für die kleine Holzhütte am Kanal online gefunden hatte, ging‘s schnell. Ein Zeitraffer aus Gesprächen mit der Maklerin, dem Kreditberater und dem Notar. Der Zeitraffer verwandelte sich irgendwann in ein Reality-Format: Wie man eine Hütte selbst renoviert. DIY. 
Nachts kann man hören, dass die Hütte nur ein Kilometer von den Dünen entfernt liegt. Der Wind heult durch die undichten Fenster und bringt das alte Holz zum Knistern und Knarren. Vor Einbruch des Winters muss der Wasserboiler repariert werden; der Gasherd zischt, bevor die Flamme stark genug wird. Zu behaupten, dass das Holzhäuschen bereits das Zuhause ist, von dem sie immer geträumt haben, wäre gelogen. 
Es ist eine Idee davon. Eine, an der sie schon seit Monaten zu zweit schleifen und feilen. Eine, die Feierabende und ungeplante Ausgaben verschlingt und vielleicht erst in ein oder zwei Jahren vollständig Gestalt annimmt. Aber was macht das schon? 
Vor drei Tagen waren Theos Eltern zu Besuch. An diesem Abend räumte er das Werkzeug beiseite, Ilja kochte original italienisches Ragù, machte zwei Flaschen Chianti auf und legte Sitzkissen auf dem Boden aus, da sie den Küchentisch erst noch zusammenbauen mussten. Theos Vater begutachtete das bunt zusammengewürfelte Geschirr vom Flohmarkt, fuhr mit der Fingerspitze über die Kerbe am Tellerrand und sagte erst mal nichts. Seine Mutter stellte dagegen immer wieder suggestive Nicht-Fragen zur Finanzierung. 

Ohne Theos Kündigung vor zwei Jahren wäre sicher mehr drin gewesen – „Ja, Mama. Hab’s nicht vergessen.“
Unter dem Tisch legte sich Iljas Hand auf seine.
„Theo hat in den letzten Tagen so viel am Haus gearbeitet. Quasi pausenlos. Ich weiß gar nicht, wie er das immer hinkriegt“, Ilja stand auf und schenkte allen Wein nach. Überhaupt verhielt er sich an solchen Abenden stets so, als wäre er ein zuvorkommender Caterer und nicht etwa sein Mann. 
 
Der Kaffee ist durchgezogen. Theo steht auf, drückt die Presse herunter und gießt sich einen Becher ein. An einem gewöhnlichen Samstagmorgen würde Theo seinem Mann vielleicht an den Strand folgen, sich während der Ebbe auf eine der Sandbänke setzen und darauf warten, dass Ilja aus dem Wasser auf ihn zukommt. Ihm gefällt es, wie Ilja lächelt, nachdem er schwimmen war,. Doch heute ist kein gewöhnlicher Samstagmorgen. Und Theo weiß nicht, wie es sein wird, wenn Ilja zurückkehrt. 


Ein Testbild von Rüdiger eingefügt

 
II.                Ein Bunker am Bernsteinmeer 
Der Bunker liegt auf einer Anhöhe am Strand. Zwischen Dünen aus grüngrauem Gras, die mit dem Küstenwind jedes Jahr geringfügig wandern, bisschen nach rechts, bisschen nach links. Doch der Betonbau aus vergangenen Kriegen bleibt, wo er ist. Ein bisschen sieht er aus wie ein pilzförmiger grauer Hut, die Wände mit dunklen Graffiti überzogen; die schmalen Schießscharten an den Ecken sind kaum noch zu erkennen. Ilja ist aufs Dach geklettert, steht nun an der Kante und blickt herunter auf die kilometerlange Küstenlinie, die sich vor ihm ausbreitet. 
 
Um diese frühe Zeit ist Ilja fast allein und das Licht eher silberfarben als golden. Mit jedem Wellenzug weicht das Wasser von der Erde zurück. In der Ferne verdeckt Nebel den Offshore Windpark. Spaziergänger lassen sich nicht blicken. Nur ein paar pelzige Männer mit Hund und Angler, die in ihren Gummistiefeln am Wasser stehen, breitkrempige Hüte tief im Gesicht. 
 
Strandgut ist die Galle des Meeres. Tote Ohrenquallen liegen neben Holzscheiten, rundgeschliffenem Braunglas, abgeworfenen Panzern von Krebsen, Austernschalen und klebrigen Algen. Diese Küste kennt nicht nur die Idylle, sondern hat auch Brutalität über sich ergehen lassen. Siege und Niederlagen verschluckt und zersetzt. Patronenhülsen, Soldatenhelme, Knochen von Helden, Deserteuren und Verbrechern, Schiffwracks und Brandbomben.  
In einer Meldung warnt die Küstenwache: Achtung bei Fundstücken an der Bernsteinküste, es könnte auch Phosphor darunter sein! Laut ihrer Schätzungen verdaut die Nordsee mehr als eine Million Tonnen phosphorhaltige Munition. Das Salzwasser zersetzt ihre Hülle und wirft ätzende, brennbare Überreste auf den Strand, die den Schmucksteinen zum Verwechseln ähnlich sehen. Doch das Meer spült einem eher keine unverhofften Schätze vor die Füße und unter der sonnengesprenkelten Oberfläche lauert oft die kälteste aller Strömungen. Ilja weiß das.
Der Bunker ist sein Déjà-Vu. Sein Vater reichte ihm bereits die unsichtbaren Waffen, als er kaum laufen konnte. Lehrte ihn, hinter einer Schießscharte zu kauern, zu laden und zu zielen. Gnadenlos alles abzuknallen, was näher kam: Gedanken und Gefühle. Personen, die nach der Wahrheit fragten. Jeden, der auf der Feindesliste stand – auch wenn diese Menschen das meistens nicht vorher wussten. Wie hätten sie auch verstehen sollen, dass sogar die kleinste Kränkung einer Kriegserklärung gleichkam? Also tat er, was von ihm verlangt wurde. Ilja, der kleine Soldat. 
 
Die Gefahr, das seien immer die anderen. Der Feind immer die Welt. Das blinde Feuern nach Draußen keine Aggression, sondern pure Selbstverteidigung. Nur hier wäre es sicher, hier im Bunker, hinter den feindlichen Linien. Nur sie beide, ganz allein, Vater und Sohn, ihre eigene kleine Kompanie. Im Halbdunkel hinter Schießscharten, zwischen unsichtbaren Waffen und leeren Glasflaschen.
Jeden Morgen ein Appell: Strammstehen und Befehle entgegennehmen. Welche Gedanken verboten sind, wie viel Lächeln erwünscht. Was man fühlen soll. Wer war Ilja, das Vaterland zu hinterfragen? Seine Forderungen? Seine Hierarchie? Seine Ungerechtigkeiten? Seine Verbrechen?  
 
Ilja blieb in Deckung. Zumindest, bis er älter wurde. Alt genug, um den Unterschied zwischen Loyalität und blindem Gehorsam zu erkennen. Zwischen Bitten und Befehlen. Nähe und Erpressung. Da zögerte er, wenn sein Vater forderte, den erklärten Feinden Munition durch die Brust zu schießen. 
Eine Provokation – wie könne Ilja es wagen, ihm nicht zu gehorchen, seinem Schöpfer? Die Sprachregelung als Propaganda zu entlarven? Wenn der Vater ihm das Leben geschenkt habe, solle Ilja diese Schuld in Blut zurückzahlen. Sich entscheiden: Entweder er selbst oder die Heimat. Und als seine Befehle keine Wirkung mehr zeigten, fing der Vater an, abwechselnd zu betteln und zu drohen. 
Da gab der kleine Soldat seine Waffen auf. Und so vieles mehr. Wenn er fortging, gab’s keine Heimat mehr. Ilja, der Hochverräter. Nun stand er an oberster Stelle der Feindesliste. Zu Beginn der Wanderschaft hatte Ilja Angst, dem Bücker den Rücken zu kehren. Doch die Hände des Vaters zitterten mittlerweile zu sehr, um selbst noch ein Ziel zu treffen. 
Ilja klettert vom Dach des Bunkers herunter und läuft aufs Wasser und die Angler zu. Vielleicht lernte er in seiner Kindheit, auf Befehl brutal zu sein, nicht jedoch, den Kopf über Wasser zu halten. Wenn die See weder Freund noch Feind ist, muss man sich anpassen. Kopf hoch, um sich Atem zu verschaffen, im richtigen Moment untertauchen. Während der Flut hinauswaten, auch wenn die Ebbe viel harmloser aussieht. Nein, Ilja ist kein kleiner Soldat mehr, aber hat gelernt zu überleben. Nein mehr: zu leben. 
Einer der Angler hebt die Hand wortlos zum Gruß. 
„Schon was gefangen?“, fragt Ilja. 
„Ja man braucht nur den richtigen Köder.“ 
Ilja wirft einen Blick in den Plastikeimer, zeigt auf eine besonders große Dorade mit silbernen Schuppen am Bauch und hält dem Angler einen Geldschein hin. 
Dieser lächelt entschuldigend. 
„Pardon, hab‘ kein Filettiermesser dabei“
Ilja zuckt nur mit den Schultern. Der Angler lächelt und kuckt aufs Meer.
„Weiß ja sowieso nicht, was die Menschen sich immer zieren. Wer den Fisch isst, soll ihn auch zerlegen können, ohne gleich das Grausen zu kriegen.“
„Ja. Find ich auch.“
 
III.             Der Fall des Vaterlands
Es ist kurz vor zehn und Theo fühlt sich immer noch so, als würde er Ende des Sommers aus einer Art Winterschlaf erwachen. Ilja wird dagegen immer mehr zum Morgenmensch, so als wäre er jeden Tag aufs Neue dankbar, dass die Nacht endlich vorbei ist. Er rührt in seinem Kaffee. Zwei Löffel Zucker, ein Schuss Sojamilch. 
Gestern Abend war er es, der Ilja die Nachricht vom Fall des Vaterlands überbrachte. Das Internet ist oft schlecht in der Gegend, insbesondere nach einer der Sturmböen, die das Land im Spätsommer und frühen Herbst überziehen. Trotzdem nicht schlecht genug, um die Hütte vor der Welt abzuschneiden. Ilja weinte nicht, als Theo in sein Zimmer kam und es ihm sagte. Die Dunkelheit legte sich über die Häuser und sickerte ins Zimmer.
„Dein Vater ist verstorben.“
Theo rechnete damit, dass sein Mann das Ganze für einen Irrtum halten würde. Doch er saß aufrecht im Bett, die Arme um die Knie geschlungen und glaubte es sofort. Theo legte sich neben ihn auf die andere Seite des Bettes. Still lagen sie nebeneinander, die Hände verschränkt. „Es ist also so weit“, murmelte Ilja leise. Theo erwiderte nichts. Er spürte, wie sich Iljas Bauchdecke hob und langsam wieder senkte. Ein so gleichmäßiger Atem. 
„Wann?“, fragte Ilja. 
„Seine Nachbarin hat geschrieben, vor einem Monat wohl. Dann war die Beisetzung längst. Aber du kannst jederzeit sein Grab besuchen und dich verabschieden.“
„Ich weiß nicht, ob ich das will.“
„Ich weiß auch nicht, ob ich das an deiner Stelle wollen würde.“
Theo blieb, bis der Schlaf Ilja holen kam. Dann stand er auf, zog sich ins andere Zimmer zurück und versuchte, sein eigenes klopfendes Herz zu beruhigen. Manchmal kam es ihm so vor, als habe Ilja sich in all den Jahren Mut an- und die Angst abtrainiert, so als würde er eine seiner morgendlichen Sets absolvieren. Theo war jedoch von einem anderen Schlag. Er lief meistens vor seinen Ängsten davon und war dabei nie schnell genug. 
Eine Woche nach ihrer ersten Begegnung hatte Ilja es ihm erzählt. Sehr überlegt und die grauen Augen auf den Fußboden gerichtet. Damals hatte er getan, als sei er vor einem Krieg desertiert. So als könnte jemand die Kämpfe, die im Inneren stattfanden, einfach beenden. Jahre später zuckte Ilja immer noch vor einer überraschenden Hand auf seiner Schulter zurück und benahm sich in Gegenwart ihrer Freunde und Theos Familie wie ein Dienstleister. Nach wie vor zensierte er die eigene Geschichte. Unschärfe hieß bei Ilja nie etwas Gutes. Kreativ war er, wenn es um Ausreden für seinen Vater ging. Für seine Sucht. Für seine Taten. Einfallslos, wenn es darum ging, für sich selbst welche zu finden. Wenn schon niemand anderes ihn verurteilen wollte überkam Ilja manchmal das Verlangen, an sich selbst ein Exempel zu statuieren. Doch in diesen Momenten hielt Theo stets seine Hände fest, schaute ihn an und sagte ruhig: „Nein.“
Die Haustür öffnet sich mit einem Klicken. Theo schaut von seinem Kaffee auf und streckt die Hand nach Ilja aus. Sein Mann riecht nach Meersalz und einer kurzen Nacht. In der einen Hand hält er eine duftende Papiertüte von der Bäckerei, in der anderen einen in Zeitungspapier gerollten Fisch.
„Waren die Angler wieder da?“, fragt Theo.
Ilja nickt und räumt den Fisch in den Kühlschrank.
„Der mit dem Schnauzer und dem Metallicapulli?“
Sein Mann dreht sich um und nickt. Theo bereitet das Frühstück vor – zwei Gedecke, etwas Aufschnitt, frisches Rührei, mehr Kaffee und schaut zu ihm herüber. 
„Ist dir kalt?“, fragt Theo. 
„Etwas“, murmelt Ilja. 
Theo rückt das zusammengerollte Tuch vor dem Küchenfenster zurecht. 
„Es wird Zeit, dass ich mich um das Fenster hier richtig kümmere, bevor es wieder kühler wird. Gestern habe ich es mir mal genauer angesehen, die alte Dichtung ist brüchig und eine der Schrauben sitzt nicht fest. Ich dachte, ich fahre heute vielleicht zum Baumarkt. Dann kannst du heute Abend beim Essen gemütlich hier sitzen, ohne zu frieren.“
„Klar, ich helfe dir“, Ilja nickt und bestreicht sich ein Brötchen mit Margarine und Quittenmarmelade.
„Bist du sicher? Du …“, er wirft ihm einen vorsichtigen Blick zu. 
„Theo!“
„Schon gut.“
 
 
IV.              Bruchstellen
 
‘Etwas reparieren, anstatt es kaputt zu machen‘, Ilja steuert den alten Fiat über die Landstraße und murmelt es in Gedanken vor sich hin, wie um sich selbst zu überzeugen. Die spontane Mission sieht Theo ähnlich: Hier ist eine Bruchstelle, der Mann friert, eine Lösung muss her. Also los zum Baumarkt, alles in Ordnung bringen.  
Ilja kann das verstehen. Es ist ein schöner Gedanke, jeden Mangel, jede Bruchstelle im Haus mit dem richtigen Werkzeug beheben zu können. Jedes Lücke zu versiegeln. Nur gibt es auch jene Bruchstellen, die man nicht von der Oberfläche aus einfach richten kann. 
 
Zu seiner Rechten hört er nur ein dumpfes Murmeln. Theo schaut aufs Smartphone und tippt an seiner To-Do-Liste herum. Am besten sei es, den Wocheneinkauf noch mit zu erledigen. Dann müssten sie am Montag nicht gleich wieder rausfahren. 
Ilja nickt. Von der Hütte sind es zehn Minuten mit dem Auto bis zur nächsten Kleinstadt. Der Weizen auf den Feldern ist abgeerntet, am Straßenrand welken Sonnenblumen. 
Etwas reparieren, nichts kaputt machen – sein Entschluss gerät etwas ins Wanken, sobald er die Autoschlange im Gewerbegebiet sehen kann. Ilja wirft Theo einen langen Blick zu, doch dieser zuckt nur mit den Schultern und meint: „Es ist Samstag.“
 
Kaum, dass sie den Baumarkt betreten, gerät Ilja unter seiner Strickjacke ins Schwitzen. Durch die geöffneten Türen drängeln sich viele Familien, angelockt von den Heimwerker-Rabatten zum Herbstbeginn. Theo steuert zu einem der Gänge auf der linken Seite.
„Dichtungen und Silikonspray muss es in der Richtung geben. Danach brauchen wir noch Schrauben“, meint er. Iljas Smartphone klingelt. 
„Sorry, ich geh‘ da kurz ran. Kuck ruhig schon mal nach der Dichtung, ich finde dich schon.“
 
– Theos Mutter. 
Ilja nickt seinem Mann zu, verschwindet in einem der Gänge, in denen frische Farbe verkauft wird. Durch die Lautsprecher an der Decke dringt ein kratzendes Geräusch. Dann dreht die Beschallung wieder auf. Lovely Day. Klar, Billie Withers im Baumarkt. Ilja schließt kurz die Augen und fasst sich an die pulsierende Schläfe.  
„Störe ich?“
Während der Schwindel in ihm heraufklettert, lehnt Ilja sich mit dem Rücken gegen das Regal. Vor seinen Augen stapeln sich die Farbeimer meterhoch. Anlässlich der Rabattaktion sind sie mit bunten Aufklebern versehen. Seine flatternden Augenlider machen daraus ein unscharfes Mosaik.
„Nein, gar nicht“
And something without warning, love 
Bears heavy on my mind
„Gut. Also es geht um den Abend, wie wir bei euch waren, es ist …“
Während sie weiterspricht, linst Ilja an der Regalwand vorbei in Theos Richtung. Er unterhält sich mit einem Mitarbeiter des Baumarkts in neonleuchtender Uniform und hält ihm ein Stück Gummidichtung unter die Nase. 
When the day that lies ahead of me
Seems impossible to face
„…wenn euch das Haus gefällt, gefällt’s euch. Der Theo ist nur so empfindlich. Das ist doch bestimmt auch schwierig für dich.“
„Theo ist nicht schwierig“, unterbricht Ilja sie und den Gesang bestimmt.
„Findest du? Er hat sich so sehr verändert. Findet sein Vater übrigens auch.“
„Vielleicht haben wir sehr unterschiedliche Vorstellungen, was ein schwieriger Mensch ist.“
„Kannst du nicht …?“
„Nein!“
„Verstehe.“
Dann die typische Billie Withers-Jaulstelle im Gang des Baumarkts. 
A lovely Daaaaaaaaaaaaaaay
Ilja lacht kurz und bitter. 
„Was erwartest du eigentlich von mir? Du kannst mich nicht dafür einspannen, Botengänge für dich zu machen oder meinen Mann zu manipulieren.“
„Das ist ja interessant, dass du das so siehst, aber …“
„Ich werde jetzt Theo mit den Einkäufen helfen“, Ilja legt auf. 
Theo kommt ihm entgegen. 
„Wer war das?“, fragt er.
„Deine Mutter“, Ilja seufzt.
„Will ich wissen, worum es …?“, beginnt er. Erneut dringt durch die Lautsprecher ein kratzendes Geräusch. Ilja ist dankbar für die Stille und bringt ein halbes Lächeln zustande. 
„Nein.“
 
Im Supermarkt ist es voller, dafür aber um ein paar Grad kühler. Sie brauchen nicht lange, um alles zu besorgen, was auf der Liste steht, auch wenn sie den Wagen im Zickzack um die Trödler steuern müssen. In der Schlange vor der Kasse tritt Theo von einem Fuß auf den anderen und linst in Richtung Parkplatz.
„Was ist los?“, fragt Ilja. 
„Der Wagen mit den gegrillten Hähnchen-Sandwiches ist wieder da. Die sahen gut aus.“
Ilja kramt nach einem Geldschein und hält ihn Theo hin.
„Na geh schon.“
„Für dich keines?“
„Nein. Ich mach‘ ja den Fisch später.“
Ein kurzer Kuss auf die Stirn, dann verschwindet Theo durch den Ausgang. Sein zurückgebundener dunkler Zopf wippt leicht auf und ab. Das Schwindelgefühl ist wieder da, also versucht Ilja sich abzulenken, in dem er die Zutaten vor sich hin summt wie einen Kinderreim: 
Ein Sack Kartoffeln. Eine Packung Grüntee. Eine Flasche Waschmittel. Ein Pott Jogurt. Ein Tetrapack Sojamilch. Eine Flasche Klarspüler. Eine Packung Margarine. Eine Portion gemischtes Hack. Q-Tips. Ein Kopfsalat. Drei Zitronen. O-Saft. Eine Zucchini. Knopfbatterien. Ein Hokkaidokürbis. Vier Birnen. Deodorant. Vier Äpfel – Moment, es sollten fünf sein.
Ilja hält inne und schaut nach vorne. Die stark geschminkte Kassiererin scannt mit unbewegter Miene die Artikel ein. Er lässt seinen Blick über das voll bepackte Kassenband wandern und hält inne. Der Kunde direkt vor ihm hat einen Apfel der gleichen Sorte neben seinen anderen Artikeln hinter dem Warentrenner aufgereiht. Ilja kratzt sich am Kopf.
„Entschuldigung, das klingt jetzt vielleicht komisch – aber haben Sie sich gerade den Apfel aus meinem Wagen genommen?“
Ausgesprochen klingt die Frage lächerlich. Doch der Fremde im blauen Jogginganzug und mit schwächlichem Goatee zuckt nur mit den Schultern. 
„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, Ilja schüttelt den Kopf. 
„Brauchst du wirklich genau fünf? Überlass mir doch einen und reg dich nicht auf“, der Ziegenbart verzieht keine Miene.
„Man nimmt sich doch nicht einfach etwas aus einem fremden Wagen! Gehen Sie zurück und holen Sie sich, was Ihnen fehlt, so wie jeder andere auch“, seine Stimme wird lauter. 
Der Fremde schaut Ilja nur verständnislos an.
„Nein. Dann müsste ich ja noch einmal Schlange stehen.“
Es ist ein Moment, in dem Ilja fast fühlen kann, wie der letzte Rest Geduld durch seinen Kopf rasselt, wie das letzte Körnchen einer Sanduhr. Ein irres Lachen steigt in ihm auf. Die anderen Kunden und die beiden Kassierer drehen sich zu ihm um. Doch egal wie sehr er es versucht, kann Ilja sich nicht dagegen wehren. 
Der Ziegenbart zeigt auf ihn und verkündet: „Mit dem stimmt doch was nicht.“
Diese Bemerkung macht es noch schlimmer. Die Hände in die Seiten gepresst, bricht Ilja in dieses absurde, wiehernde Geräusch aus und wischt sich über die Augen. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Theo den Supermarkt wieder betritt, sich den Weg durch die Menge bahnt, in der Hand eine kleine Papiertüte.
„Das ist einfach…“, was er hervorbringt, ist halb Stottern, halb Kichern. 
Theo nickt der Kassiererin freundlich zu und bittet den Ziegenbart laut, doch bitte den Apfel rauszurücken. Dass dieser auf einmal gehorcht, macht es nur schlimmer. Mit einem Mal hört Ilja auf zu lachen und sagt leise: „Das ist mir jetzt zu viel.“
Theo nickt der Kassiererin zu, nimmt seine Hand und murmelt ihm zu: „Ich mach das hier. Warte doch einfach im Auto.“
 
Der Weg nach draußen verschwimmt ihm vor Augen. Die ineinander geketteten Einkaufswagen. Der Grillstand vor dem Supermarkt, oszillierender Fettdampf in der frischen Herbstluft. Die Parkreihen und sauber geschnittenen Bäume zwischen dem Einkaufscenter und dem Baumarkt, all das ist Bestandteil des gleichen Films. Ilja schleppt sich zum Fiat, öffnet den Wagen und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Was ihn überkommt, ist ein Zittern, ein Beben, das sich den Weg nach draußen bricht, durch seinen Körper hindurch. Seine Fäuste, die aufs Armaturenbrett auf der Beifahrerseite trommeln, und ein Schrei, der sich nach draußen drängt. Auf mehrere große Wellen folgen ein paar kleine, bis er zusammensackt auf dem Sitz, den Blick abwendet und die Erschöpfung ihn übermannt. 
Der Kofferraum öffnet sich. Ilja hört, wie Theo die volle Einkaufstasche in den Wagen hievt, und hält die Augen geschlossen, auch als die Tür neben ihm sich öffnet und weiche Hände über sein Gesicht streichen.
„Komm, ich fahre uns nachhause“, sagt Theo leise. 
 
Es ist ein ähnliches Gefühl wie beim Tauchen unter Wasser, findet Ilja. Der Druck. Die verschwommenen Bilder und das leise Sirren in den Ohren. Sobald man unten angekommen ist, steht die Oberfläche im Fokus, wie ein gläsernes Gebilde, hinter dem das Licht lauert und wo man wieder atmen kann. Ilja liegt auf der Couch und beobachtet Theo, wie er am Fenster herumwerkelt. Sein Mann lächelt ihm zu. 
„Das haben wir gleich. Dann bleibt es heute Abend schön warm hier drin, wenn es wieder so stürmt.“ 
Seitdem sie vom Einkaufen zurückgekehrt sind, hat Ilja kein Wort gesprochen. Beim Tauchen herrscht Stille und Theo versteht das. Leise murmelt sein Mann vor sich hin, löst die alte Dichtung mit einem Messer vorsichtig vom Fensterrahmen und entfernt mit geschickten Fingern die Rückstände. Dann drückt er die neue Dichtung mit den Fingerspitzen in die Nut und murmelt: „Schön stauchen und Platz lassen, damit die Dichtung im Winter nicht schrumpft und die Kälte durchlässt.“
Als er fertig ist, schließt und öffnet er das Fenster probeweise. Klappe auf, zu, klapp, klapp. Es ist das Letzte, was Ilja noch hört, bevor er in einen unruhigen Schlaf fällt. 
 
 
 
V.                 Die Moral der Meeresräuber
 
Es ist schon kurz vor sieben, als Ilja sich auf der Couch aufsetzt. Theo schaut zu ihm herüber. 
„Wie lange habe ich geschlafen?“, er tastet nach dem halb vollen Wasserglas auf dem Tisch. 
„Fast zwei Stunden. Wie fühlst du dich?“, Theo setzt sich ans Fußende des Sofas. Ilja wirft ihm einen langen Blick zu. Sein Mann dreht den Kopf zur Seite und blickt hinaus auf die Terrasse. Eine der Enten lässt sich mit einem lauten Platschen vom Ufer in den Kanal fallen. 
Schließlich steht Ilja auf. 
„Ich glaube, ich mache jetzt den Fisch. Du kannst einfach nur Kartoffeln und Gemüse essen, wenn du den nicht magst.“
„Klingt gut“, Theo zieht sich seinen Kapuzenpullover über und setzt sich an seinen Platz. Er beobachtet Ilja, wie er den Fisch vorbereitet. Bevor er das Messer ansetzt, hält er ihn unter den Wasserstrahl, braust seine glitschige Haut ab und tupft ihn mit etwas Papier trocken. 
„Es ist wichtig, das Messer nicht zu tief zu stechen“, erklärt er, „Man muss es nach oben hin leicht neigen, quasi entlang der Naht, sonst zerstört man die Gallenblase. Dann sickert das Gift ins restliche Fleisch und alles ist bitter.“
 
Durch die Fenster fällt das Abendlicht in die Küche, lässt Iljas helles Haar aufleuchten und bleibt an seinen bloßen schlanken Armen und konzentriert hervortretenden Kieferknochen hängen. 
Je weiter er mit dem Messer nach oben schneidet, desto größer wird der Widerstand. Schließlich ist Ilja mit dem Messer unterhalb der Kiemen angelangt, macht einen sauberen Querschnitt an der Kehle, klappt den Fischbauch auf und zieht mit einer Hand vorsichtig die Innereien an einem Stück heraus. Sie klatschen auf den blechernen Boden der Spüle. 

Theo rümpft die Nase. Ilja braust den Fisch unter kaltem Wasser ab, trocknet ihn, füllt seinen Bauch mit Kräutern, beträufelt ihn mit Öl und schiebt ihn in den Ofen. Anschließend klaubt er die Innereien aus der Spüle, wirft sie weg und wäscht sich die Hände. Das Zitronige im Spülmittel legt sich über den Gestank von Blut. Ilja dreht sich zu ihm um. 
„Wer den Fisch essen will, soll ihn auch zerlegen können, ohne gleich Skrupel zu kriegen.“ 
„Ich will ihn doch gar nicht essen“, Theo sagt es ganz leise. 
„Die Worte des Anglers, nicht meine.“
 
Theo ekelt sich vor der blassen Beute aus dem Meer ebenso wie vor dem blutigen Geruch. Doch er bleibt sitzen. 
 
Denn jetzt redet Ilja. Theo weiß genau, dass sein Mann das Führen „guter Gespräche“ hasst. 
Sich auf der Couch gegenüberzusitzen. „Und wie fühlst du dich dabei?“ – Nein. 
Aber mit beschäftigten Händen, die Kartoffeln schälen, Gemüse kleinschneiden und sorgfältig Gewürze drüberstreuen, ist es einfacher. Kräuterduft in der Nase, die Füße fest auf dem  Holzboden – so kann Ilja freilegen, was verschüttet ist. Erlebnisse, die so tief liegen, dass noch keine Geschichten daraus wurden, keine Dramaturgie mit Anfang, Mitte, Schluss. Worte, die er noch nicht mal vor sich selbst ausgesprochen hat.
 
„Ich weiß, dass man vielleicht anderes von mir erwarten würde. Dass ich von Vergebung spreche. Meinen Vater über den Tod hinaus noch schone. Mich in einen schwarzen Anzug werfe und auf dem Friedhof in Tränen ausbreche. Sage, wie tragisch es ist, dass er tot ist. Ein letzter Appell des kleinen Soldaten.“
 
Das Messer senkt sich und schneidet das Gemüse in feine Streifen. Klapp, klapp, klapp. Ilja führt die Bewegung sauber aus, aber mit zu viel Kraft. Theo stellen sich die Nackenhaare auf, als er sieht, wie die Klinge nur einen Spaltbreit vor seinen Fingerspitzen sich ins Holz bohrt. Er zieht die Luft ein und lässt seinen Blick lieber auf Iljas Gesicht ruhen, das ihm im Profil zugewandt ist. Und dieser wird lauter: 
 
„Nur ist es mir inzwischen verdammt egal, was man von mir erwartet. Man – wer auch immer das sein soll. Es kommt nicht darauf an, ob es angemessen ist, was ich denke. Oder was ich fühle. Das ändert nichts an seinem Tod, aber auch nicht an den Dingen, die er getan hat.“
 
Ilja lässt das Messer schwungvoll zur Seite gleiten und schiebt das kleingeschnittene Gemüse und die Kartoffeln zu einem Haufen zusammen. Da lässt er das Messer fallen und dreht sich Theo vollständig zu.

„Also werde ich ehrlich sein. Ich finde es nicht traurig und schockierend, dass er tot ist. Letztendlich haben wir es all die Jahre kommen sehen. Ich finde es traurig und schockierend, immer noch, wie mein Vater gelebt hat. Dieses Nicht-Leben, das er geführt hat – und ich mit ihm. Zumindest die ersten achtzehn Jahre meines Lebens.“

Theo kann das Summen der Heizung hören, eine tiefe Melodie. Draußen dämmert es. Das Licht, das zuvor alles Kantige, Harte in Iljas Zügen beleuchtet hat, verblasst allmählich. Ilja dreht den Gasherd auf, erhitzt etwas Öl in der Pfanne und fängt an, das Gemüse zu braten. 
 
„In der Nacht, in der ich weggelaufen bin, hatte ich nur einen Rucksack. Ich habe mein Zeug gepackt, ganz leise, als mein Vater geschlafen hat, und den Schlüssel auf den Küchentisch gelegt. Das und den Brief.“
 
Vom Herd zischt es. In der Küche breitet sich ein Duft nach Olivenöl und Kräutern aus. Theo schaut ihn an. „Und dann?“, fragt er leise. 

„Dann bin ich los. Es war wie diese Bibelgeschichte, in der die Frau sich nicht umdrehen darf, weil sie sonst für immer erstarrt. Ich wusste, wenn ich zurückschaue, komme ich nie heraus aus dieser trostlosen Wohnung.“
 
Ilja dreht ein kleines Rädchen am Gasherd. Die Flamme schwindet, erlischt jedoch nicht. Ilja lehnt gegen die Anrichte. Er hebt die Hand, als wollte er etwas greifen. Lässt sie fallen. Wirft einen Blick auf dem Fenster in Richtung Meer. 
 
„Das was man fühlen soll, ist nie das, was ich tatsächlich fühle“, sagt Ilja zum Schluss. 
-          „Bei wem schon?“
 
Ilja nickt ihm langsam zu. Theo steht von seinem Platz auf, gießt ihnen zwei Gläser Wasser ein. Schließlich erhebt er seins. 
„Vergessen wir das, was man fühlen soll. Auf das, was wir wirklich fühlen. Hier.“
Es bleibt ein Moment des Zögerns und der Stille zwischen ihnen. So als würden die Welt kurz ihren Atem einhalten. Es ist ein Warten, das genug Licht und Leere verspricht, aber auch feste Wände und Boden unter den Füßen. Schließlich räuspert Ilja sich und erhebt sein Glas. 
„Auf das, was wir tatsächlich fühlen. Hier bei uns.“
 
 
 
 
 




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Jens Nicolas

6.2.24, 19:33

Sehr schön, aber zu lang am Stück.