Atonale Erleuchtung
Ich wache auf,
Augen geschlossen,
heut ist der Tag,
heiliges Ritual.
Ruhe liegt sonst schwer auf dem Kloster,
jetzt durch Schritte gestört,
Flüstern hinter den Türen,
ich weiß,
das sind die Vorbereitungen,
leise,
nicht die Uneingeweihten wecken,
die Unwürdigen.
Ich weiß,
heute bin ich
– die Eingeweihte –
nicht eingeweiht.
Ich weiß,
heut ist der Tag,
dachte schon,
an diesem Tag gibts Raum für Zweifel,
Widerspruch,
vielleicht nicht mein Tag,
unser Tag,
ich meine,
jemand anders wär dran.
Im Moment aber,
in dem ich die Augen öffne,
spür ichs,
spür den sprunghaften Puls,
als wärsn anhaltender Traum.
Schließe meine Augen wieder,
bloß die Nerven beruhigen,
bin ruhig,
ruhiger als vorher,
meine Schwestern auch ruhig.
Ich hör euch,
eure Schritte schwerer als sonst,
entschlossene Schritte,
mein Puls folgt euern Schritten,
ihr tragt das Gewicht,
tragts mit Demut,
liebe Schwestern,
sechs Schwestern,
lasst michs Opfer mittragen,
bin die Jüngste,
lasst es uns sechs gemeinsam tragen.
Dachte,
das Warten wär das Schlimmste.
Unruhig wie ne schlaflose Nacht,
freut euch,
Schwestern,
eure Jüngste ist tapfer,
steht bereit,
ist bereit,
dreißig,
neunundzwanzig,
achtundzwanzig,
siebenund-
Ich zähl die Schritte,
die Sekunden,
kenn euer Tempo,
den unruhigen Rhythmus eurer Schritte,
euer Flüstern,
achtzehn,
siebzehn,
sechze-
Kann nicht länger warten,
ich zitter,
wunder mich,
dass ich nach Jahren
– Jahrzehnten –
im Kloster,
bei dir,
immer noch die Jüngste bin,
die die Anerkennung ihrer Schwestern sucht,
die Jüngste und Letzte,
die morgens geweckt wird,
die Letzte,
die aus der Übung geholt wird,
die ihre Schwestern warten lässt.
Und du wirst wie immer da stehen.
Elf,
zehn,
neun.
Ihr alle,
eure Silhouetten in der Tür im Morgenlicht,
das die Halle flutet,
ihr seid jetzt präsent vor meinem inneren Auge,
Gruppe alter Frauen,
grau geworden,
wartet auf mich,
auf die Jüngste.
Je mehr ich drüber nachdenke,
machts mich wahnsinnig.
Sechs,
fünf.
Jeden Morgen.
Ihr alle,
wartet auf die Jüngste,
darauf,
dass die Jüngste aufholt,
ich denke,
dass euer Tempo abnimmt,
folge euer Altersruhe,
keineswegs,
stattdessen werden die Schritte schneller.
Zwei.
Nach dem heutigen Tag zitter ich unter euerm Blick,
jetzt seid ihr hier,
mein Puls höher,
Mund trocken,
Sonne scheint in meine Kehle,
Schwestern,
die Sonne verschluckt mich.
Bevor ich drüber nachdenke,
bin ich auf den Beinen,
eile los,
alte Frau in einem Kloster,
sehe euch jetzt,
Gesichter,
die lächeln.
Du kennst das Unbehagen der alten Frauen,
vertraute Gesichter,
ich kann euch sehn,
ihr fühlt dasselbe.
Ich nehme Position ein in eurer Mitte,
älteste Schwester war immer voraus,
Kopf unserer kleinen Schar.
Mit der Zeit verliert sie den Antrieb,
immer die Erste zu sein.
Erinnert ihr euch an den Witz,
dass ihre Beine kürzer geworden sind?
Jetzt ist sie die Letzte,
begleitet die Gruppe,
verlangsamt sogar manchmal das Tempo,
scherzt gerne,
dass sie der Ehrengast ist,
von ihren Schwestern eskortiert,
unsere Schwester Jill,
was fürn Schock,
erinner mich jetzt,
was fürne Überraschung,
als Jill uns ihr Geheimnis verriet,
ihr Geburtsame,
ebenfalls Jill,
hielten wir alle fürn groben Scherz,
zu lächerlich,
um wahr zu sein,
Jill ihr jetziger Name.
Wir wissen,
dass jede n andern Namen hat,
nicht den jetzigen Namen,
aber Jill hat den Namen behalten,
hat erst später erfahren,
dass sie den Namen beim Klosterneintritt nicht behalten dürfe,
sollen unserm irdischen Leben abschwörn,
unsern irdischen Namen aufgeben.
Hat gelacht,
wusste es nicht,
hat die Frage nicht verstanden,
wusste nur,
dass es was mit ihrem Namen zu tun hatte,
wussten nicht,
ob wir lachen oder uns empören sollten,
starrten uns nur an,
fragten uns,
ob wir uns verhört hatten.
Das ist die Wahrheit über unsere Schwester Jill.
Meine Schwestern und ich steigen die Treppe runter,
letzte Gelegenheit,
ihre Gesichter zu sehen,
beschließe,
ihre Ruhe zu achten,
indem ich sie nicht anschaue,
Blick parallel halte,
versuche,
genauso gelassen zu sein,
jeder Schritt wie mit schwerem Gewicht,
Schritte gemessener als sonst,
unser Gang in einer neuen Form,
neuer Puls,
Druck dieses Tages,
heiliger Tag,
unsere letzten gemeinsamen Momente,
Schwestern,
wie gut zu wissen,
dass wir danach für immer zusammen sein werden,
vereint,
nicht eine unter vielen,
viele unter vielen,
keine Abgrenzung mehr,
keine Ecken und Kanten,
werden eine Einheit sein,
nach jahrzehntelangem Training,
jetzt das Ziel vor Augen,
unzählige Stunden damit verbracht,
gemeinsam zu üben,
getrennt,
zusammen,
wieder getrennt,
unsere Körper trainieren,
unsern Verstand,
Unterschiede haben die Bedeutung verloren,
Materie sich aufgelöst,
heute fahren wir die Früchte ein,
vergiss die Zeit,
ist ja in Wirklichkeit keine Zeit vergangen,
Tod unbedeutend,
verglichen mit dem Tod der Sterne,
heute tun wir,
was die Sterne tun,
wir leuchten hell und lösen uns auf,
verschmelzen in unsere Überreste,
Dämpfe,
neue Ursprünge,
alles wieder von vorn.
Wir sind da,
heilige Halle des Anfangs,
sechs Schwestern und ne Handvoll Kräuter,
das Ritual durchzuführen.
Danach keine Schwestern mehr.
Werden mehr sein.
Nicht mehr sein.
Sitzen jetzt auf dem Boden,
sechs Körper,
sechseckig,
nach innen gerichtet,
Puls gleichmäßig,
folgen dem heiligen Ritual,
folgen seinem Puls,
Versuch,
eins zu werden,
wenn wir scheitern,
versuchen wirs nochmal,
solltes gelingen,
gehen wir raus,
löschen aus,
Nichts.
Ich schließ die Augen,
höre meine Schwestern atmen,
bin Teil von euch,
Augen geschlossen,
kann meine älteste Schwester Jill spürn,
Jill und Rose,
die beiden Säulen des Tempels,
sitzen direkt vor mir und der anderen Jüngsten,
unsere Schwester Kate,
Jill und Rose unsere Säulen,
Kate und ich die Eingänge,
die Hoffnung,
rechts unsere Schwester Jess,
links Lizzy,
alle eins geworden,
Vertrauen,
nach Jahrzehnten gewonnen,
heute mehr als eins,
fließen ineinander,
Fundament gelegt,
auf dem der Tempel errichtet wird,
Jill rezitiert die vertrauten Worte.
Tempel bauen mit euern Körpern,
dann lassen wir alles zurück.
Jills Flüstern wie Donnergrollen,
unser Tempel widersteht,
ist unerschütterlich.
Rose poltert die zweite Strophe,
durchdringendes Falsett.
Erweitert eure Herzen jetzt,
eine Verwandtschaft,
dann lassen wir alle zurück.
Jede Wiederholung pulsiert durch unsere Körper,
Schockenergie,
die sich von innen durch unser Fleisch beißt.
Ihr müsst widerstehen.
Ich konzentrier meine gesamte Energie,
unterdrücke den Drang,
mich zu bewegen,
bin ein Fels,
statische Aufladung,
die mir durch die Glieder fährt,
ich hör die Luft knistern,
wir verflechten uns,
berührn uns,
ohne die Körper zu bewegen,
Energie stellt den Kontakt her,
breitet sich aus.
Widersteh der Versuchung des Körpers,
in eine andere Dimension zu wachsen.
Der Geist ist Herr über alles,
Tor zur Welt.
Die Lieblingslehren von Jess und Lizzy,
haben endlos über diese Worte meditiert,
bin mir nicht sicher,
ob ich ohne Jess und Lizzy hier sein würde,
von ihnen hab ich die Selbstbeherrschung,
leben so hingebungsvoll wie sonst niemand,
selbst an Tagen des Überflusses bleiben sie stark,
widerstehen der Versuchung,
ohne sie bricht der Tempel.
Meine Gedanken kreisen,
Jess und Lizzy beginnen die dritte Strophe,
wird immer schwieriger,
ihre Stimmen zu erkennen.
Werde das Portal,
Himmel und Erde in zwei Teile,
jetzt.
Klänge,
die zwischen den Wänden widerhallen,
anschwellen,
werden zum Muster aus Erschöpfung und Erfüllung,
Jess und Lizzy brechen alles auf,
ihre Stimmen stoßen immer wieder in die Formel des Gesangs.
Nimm es auf!
Nimm es auf!
Nimm es auf!
Nimms auf!
Nimms auf!
Plötzlich bricht das Inferno ab,
unterbrochen von den Stimmen meiner Schwestern,
Stille,
schweres Atmen,
Lippen schmatzen,
bereit für den letzten Schritt,
so weit haben wirs geschafft,
jetzt Handvoll Kräuter in den Mund,
bitterer Geschmack,
Speichel und flockiger Brei,
klebrig,
wird sauer.
Dürfen die Konzentration nicht verlieren,
nicht eine Sekunde lang.
Münder jetzt geschlossen,
Einatmen der Kräuter würde den Ritus zerstören,
wir beginnen,
die letzte Strophe zu singen.
Berührt die Seelen mit euern Herzen,
kommt zurück.
Zum großen Jenseits,
unserm Zuhause.
Dreh die Zeit zurück,
innen und außen.
Schwer zu sagen,
woher die Stimmen kommen,
ob sie überhaupt da sind,
wo auch immer.
Haben sie jemals existiert?
Ausdrucksmittel jenseits des bloßen Seins?
Ich denke an die ersten Wochen im Kloster,
Kate paar Wochen vorher eingetreten,
die Andern liebten es,
die jüngere Schwester zu verspotten,
ihr zu sagen,
sie müsse härter werden,
müsse auch für mich Verantwortung übernehmen.
Sie war stolz,
eine jüngere Schwester zu haben,
auf die sie aufpassen konnte.
Ich dachte,
sie sei bisschen eingebildet,
aber hat sich um mich gekümmert,
teilten lange ein Zimmer,
war der einzige Mensch,
mit dem ich sprach,
haben nicht viel gesprochen,
überhaupt im Kloster nicht viel gesprochen.
Die Stille zu Anfang erdrückend,
Leere,
die gefüllt werden wollte,
Leere,
die Energie raubte.
So hab ich mich gefühlt,
dachte,
Kate gings auch so,
aber sie hatte bereits den nächsten Schritt getan,
schaute nach innen,
Stille schafft keine Leere,
Stille ist immer schon da,
Teil der Dinge,
verbindet die Dinge,
erlaubt ihnen,
da zu sein.
Mein erstes Unbehagen,
jetzt versteh ichs,
ich war noch nicht auf dem Weg,
war noch verstrickt,
Kate schwieg,
befreite mich.
Jahre später gestand sie,
war auch für sie schwer,
nicht mit mir zu sprechen,
bedankte sich.
Jene,
die sie verspottet,
habens Kloster nach wenigen Monaten verlassen,
wir sind geblieben.
Kate wars auch,
die mich Rose vorstellte,
exkommunizierte Priesterin,
die ihr das Schweigen lehrte.
Wahre Prophetin,
die keine Notwendigkeit sieht,
zu sprechen,
zu schreiben.
Warum sollte das geschriebene Wort schwerer wiegen als der gelebte Glauben?
Kein Wunder,
dass Jill aus der Kirche geworfen wurde.
Viele Schwestern haben ihren ursprünglichen Glauben verlassen.
Ich auch.
Gesang hört auf,
Stimmen weg,
meine Haut schält sich nach hinten,
platzt jetzt,
meine Zunge taub,
noch meine Zunge?
Schleim zwischen den faulen Zähnen,
vom Kraut zerfressen.
Hab ich den Brei verschluckt?
Oder verdaut der Brei mich?
Mein Speichel zersetzt den Brei.
Der Brei selbst ein ausgehungerter Mund,
der mich zerkaut,
atmet der Brei?
Atme ich?
Ich löse meine Gruppe von Schwestern auf.
Ich selbst.
Ewiges Weiß mit schmutzigen Flecken,
die Welt eine verzerrte Weite,
Realität reduziert,
rückt weit zurück,
löst sich auf in Koordinaten,
in Ruhe.
Endlose Kreislauf zerbricht,
verformt sich um sich selbst.
Ich spür,
wie wir uns gegenseitig verschlingen,
wie wir ins Geflecht unserer Körper fließen.
Der Tempel stürzt ein.
Schwestern!
Das Portal,
hat sichs überhaupt geöffnet?
Hats Himmel und Erde in zwei gespalten?
Hab ich hindurchgesehn?
Ich spür,
wie ich wieder zurückkehr,
abgebrochen,
ungeboren.
Seid ihr noch da,
Schwestern,
wenn ich die Augen öffne?
Ich will euch ein letztes Mal sehen.
Die restliche Energie wird aus meiner Lunge gesogen,
Röcheln aus meiner verkrampften Kehle,
das letzte Geräusch,
bevor die Körper meiner Schwestern auf dem Boden aufschlagen.
Bleiben liegen.
Werden kalt.
Endlich hier,
endlich hier,
zerrissen der endlose Fluss,
Geburtsort,
Leere,
Zuhause,
Tod der fremden und vertrauten Formen,
fallen,
schrumpfen,
stürzen ein,
hüllen mich ein,
schaffen den Raum und verschlingen ihn.
Fleischwerdung,
Konzentration des Seins,
entwirft sich selbst,
nachdem sie geworfen wurde,
taucht erst jetzt auf,
Bewegung,
gewordener Ursprung,
zurückkehrendes Selbstgefühl,
dankbar in-sich-sein,
ich sein.
Welche Hand hat diese Wiederkehr arrangiert?
Wer hat die Macht,
die Stummen aufzurichten,
die Anschlüsse neu zu verdrahten?
Ich erwache aus dem Schlummer,
kehr zurück zum Körpertanz,
zur Materie,
etwas hält mich,
kann das Auge sehen,
das mich sieht,
schickt mich nach innen,
während es meinen Blick lenkt,
ich dringe in mein Ich ein,
um mich im Auge zu finden.
Ich seh mich.
Ich seh mich.
Ich seh ihn jetzt,
den neuen Horizont,
den meine Seele betritt,
bin zurückgekehrt,
Maße des Raums,
der die Bewegung begrenzt,
Spiegel aus Licht,
ein Stuhl,
Präsenz der Abwesenheit,
die du erst spürst,
wenn du da bist,
wo jemand anders sein sollte.
Gehört mir dieser Raum?
Dieser Stuhl?
Diese Abwesenheit?
Abwesenheit meines Körpers.
Spiegel ist leer,
meine Stimme nicht mehr da.
Habe ich das schon mal gedacht?
Ich spür kein Gewicht.
Wo ist mein Körper?
Wer ist das jetzt?
Was ist das?
Fette Kreatur schleicht sich in mein Blickfeld.
Peripherie.
Werde von ihr verschlungen.
Seh es nicht,
sehe hindurch,
bin das sehende Ich.
Stampfen erschüttert den Boden,
kann seinen Puls nicht finden.
Meinen Puls.
Ich falle.
Da ist kein Boden mehr.